Wenn man nicht weiß, was man will – Die Morgenseiten, ein Schreibexperiment

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und noch immer habe ich für den Dezember keinen Beitrag geschrieben. Die Pflichtbewusste in mir, ich nenne sie gerne „Frau Rottenmeier“, ist unzufrieden. „Du kündigst auf Deiner Website an, dass Du jeden Monat einen Beitrag schreiben willst, und dann versuchtst Du Dich zu drücken. Das geht nicht! Ein wichtiger Teil Deiner Arbeit ist Verlässlichkeit. Deshalb musst Du jetzt schreiben, ob Du willst oder nicht.“

Der andere Teil in mir, nennen wir ihn „Garfield“, räkelt sich gemütlich beim Mittagsschlaf. „Ich habe keine Lust, jetzt zu schreiben. Der Dezember hat doch noch ein paar Tage. Heute ist erst Sonntag, und am Mittwoch ist erst Silvester. Lass mich doch in Ruhe, Frau Rottenmeier! Ich will nur noch machen, wozu ich Lust habe. Außerdem fällt mir nichts Sinnvolles ein, jedenfalls nichts mit Anspruch.“

Da meldet sich ein dritter Teil in mir, die Versöhnliche: „Hört mir mal zu. Ich habe eine gute Idee. Wie wäre es, wenn wir ein kleines Experiment machten? Frau Rottenmeier, ich verspreche Dir, dass am Ende, ein Text dabei herauskommen wird! Und Garfield, Dir verspeche ich, dass Du Dich nicht anstrengen musst und ganz entspannt bleiben kannst!
Wie das geht? Ganz einfach, wir schreiben einfach drauf los, ohne zu wissen, was dabei herauskommen wird. Wie findet ihr das? Die Drei in mir werden sich recht schnell einig, aber das, was sich „Ich“ nennt, ist noch nicht ganz überzeugt. Und das soll man dann veröffentlichen? Also: warum nicht. Ein Experiment ist es wert.

Vielleicht denken Sie jetzt: „Der fällt aber Einiges ein!“ Leider bin ich nicht so genial oder erfinderisch. Darauf wäre ich echt stolz. Aber das Verfahren, das ich hier beschreibe, habe ich aus einem wirklich lesenswerten Buch geklaut.
In „der Weg des Künstlers“ beschreibt Julia Cameron, eine Frau, die Schreibseminiare gibt, die Morgenseiten. Für mich eine absolut geniale Möglichkeit, mit sich selbst in Beziehung zu treten.

Wollen Sie wissen, wie man Morgenseiten schreibt? Ganz einfach! Sie brauchen morgens eine halbe Stunde Zeit und etwas Disziplin. Wenn Sie also auch eine Frau Rottenmeier in sich tragen – dafür ist sie ganz gut zu gebrauchen.
Nach dem Aufwachen holen Sie sich einen Kaffee oder einen Tee, suchen sich ein gemütliches Plätzchen, (dabei hilft Garfield) und schreiben genau 3 DIN A4 Seiten, nicht mehr und nicht weniger.
Jetzt werden Sie wahrscheinlich sagen, dass Sie morgens noch kein Tagebuch schreiben können. Kann ich auch nicht. Das ist nämlich der Trick, einfach das aufschreiben, was Ihnen durch den Kopf geht. Und wenn Sie dabei noch ein bisschen müde sind, umso besser, denn Ihr Unterbewusstsein ist in diesem Zustand hellwach.

Das könnte zum Beispiel so aussehen: „Ich bin ich so müde, schlecht geschlafen. Wie das Wetter wohl wird? Aua, mein Rücken tut schon wieder weh. Scheiße, wenn man älter wird! Was heute wohl auf mich zu kommt? Im Windter finde ich es trostlos. Nichts los. Dahinten sammeln sich schon die Krähen. Das sollen ja sehr schlaue Tiere sein.

Da fällt mir übrigens etwas Witziges ein: Als ich noch in der Psychosomatik arbeitete, leitete ich wöchentlich eine Gruppe für Patienten  mit Ängsten und Zwängen. Es war ein kirchliches Haus, und wir konnten aus dem Gruppenraum auf die goldene Kugel der Kirchturmspitze schauen. Während wir über die verschiedenen Ängste sprachen, landete eine Krähe auf der Kugel und schaute direkt zu uns in den Gruppenraum. Ein Patient geriet in Panik, glaubte, dass das, was er sah, keine Krähe, sondern der Tod sei. Er ließ sich kaum beruhigen, und es entbrannte eine heftige Diskussion darüber, welche Tiere im Haushalt den Tod bringen könnten. Allgemeine Einigkeit bestand bei Spinnen. Jeder kannte jemanden, der schon durch Spinnen zu Schaden gekommen war. Etliche Exemplare seien sogar in der Lage, durch Bisse zu töten. Davon hatte ich noch nicht gehört, ich habe es auch nicht geglaubt, musste ein Lachen unterdrücken. Das konnte doch wohl kein aufgeklärter Mensch glauben. Aber schließlich ging es in der Gruppe ja um Ängste und Panik. Also war ich gewohnt, jedes Anliegen ernst zu nehmen. Und warum sollte nicht die Angst selbst in der Lage sein, Menschen zu schaden?

Da fällt mir meine frühere Mitbewohnerin Gundi ein. Gundi hatte sich ein Bein und einen Arm gebrochen, weil sie auf der Kellertreppe eine Spinne monstösen Ausmaßes entdeckt hatte und vor Schreck die Treppe herab stolperte.
Auch kürzlich bat mich eine Nachbarin, ihre Wäsche mit in den Keller zu nehmen, eine Spinne versperre ihr den Weg. So ist das mit den Ängsten. Nicht das Ding ist die Gefahr, sondern die Angst als solche.

Ich habe viel Verständnis, da ich selber vor über zehn Jahren an einer Angststörung litt. Gott sei Dank, fühle ich mich jetzt ziemlich geheilt und bis auf eine Flugangst, ist nichts zurückgeblieben. Aus meinen damaligen Erfahrungen habe ich die Angstgruppen initiiert. Während ich damals krank war, fand ich kein Gruppenangebot, das für mich passte. Als ich dann später als Krankenschwester in der Psychosomatik tätig war, versorgte ich betroffene Patienten mit ausgeklügeltem Insiderwissen über Ängste, so dass sie sich häufig über mich wunderten. Irgentwann traute ich mich, meine eigenen Erfahrungen öffentlich zu machen, und das, was mir selbst im Umgang mit der Angst geholfen hatte, mit anderen zu teilen. So entstanden die verschiedenen Angstgruppen, die ich einige Jahre geleitet habe.

Dem Patienten, der sich so fürchterlich über die Krähe ängstigte, schenkte ich das Buch: Der Rabe Socke. Mein Sohn hat es geliebt, und ich habe es gerne vorgelesen. Ob es geholfen hat, weiß ich nicht mehr.

Was wohl aus den ehemaligen Patienten geworden ist? Über die Jahre, sind mir viele ans Herz gewachsen. Wenn man eine Gruppe für so lange Zeit begleitet, wie ich es dann später in der Ehe- Familien- und Lebensberatungsstelle gemacht habe, dann wachsen die Teilnehmer zusammen und unterstützen sich gegenseitig. Gemeinsam hat man mehr Mut und traut sich, auch Beängstigendes auszuprobieren. Man spornt sich gegenseitig an.
So ist übrigens auch das Video auf meiner Website entstanden. Meine damalige Chefin in der Ehe-Familien- und Lebensberatungsstelle meinte: „Christiane, Du weißt doch soviel über Angst und Sex, hast Du nicht Lust ins Baden TV zu gehen?“ Wer mich kennt, weiß, dass dies eine echte Herausforderung für mich ist. Wenn ich nur eine Kamera sehe, bin ich schon auf der Flucht. Und das sind nur Fotos. Mich filmen lassen? Ganz schwierig. Zu dieser Zeit gab es in meiner Angstgruppe einige Menschen, die Neues ausprobierten, und sich trauten. So beschloss auch ich, mich zu trauen, und die Herausforderung anzunehmen. Und, was soll ich sagen, es war gar nicht schlimm. Ich hatte sogar Spaß. Dieses Erlebnis ist übrigens ein tolles Beispiel dafür, was eine erfolgreiche Therapie ist. ALLE, am Prozess Beteiligte wachsen und gehen verändert aus dieser Erfahrung hervor. Insofern an dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön an alle Ehemaligen. Ich habe mindestens genauso viel gelernt wie Sie.

Wie bin ich jetzt darauf gekommen? Keine Ahnung. Ich bin dem Fluss meiner Gedanken gefolgt. Das ist das, was die Morgenseiten meinen. Einfach drauf losschreiben. Die Morgenseiten liest man übrigens nicht sofort wieder, sondern man blättert einfach um, und lässt sie für mindestens 8 Wochen ruhen. Wenn man dann ungefähr 120 Seiten vollgeschrieben hat (5mal in der Woche mindestens 8 Wochen lang 3 Seiten am Morgen ergeben 120 Seiten), dann kann man mit einem Textmarker bewaffnet, sein Werk lesen. Und ich kann Ihnen aus Erfahrung sagen, es lohnt sich. Durch den nicht vorhandenen Druck und den leichten Einstieg, steigen wichtige Themen ins Bewusstsein auf. Immer wieder und wieder. Diese können Sie markieren, und Sie werden merken, was Ihnen wirklich wichtig ist, welche Konflikte Sie mit sich herumschleppen, und wenn Sie etwas Geduld haben, werden Sie auch merken, dass Lösungen für Ihre Probleme aufsteigen.

Ich habe in wichtigen Übergangsphasen meines Lebens fast immer monatelang Morgenseiten geschrieben. Ohne Morgenseiten hätte ich wahrscheinlich keine Praxis, weil die Angst vor dem Scheitern zu groß gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ich mich nie getraut, meine feste Stelle im Krankenhaus zu kündigen, um mich voll und ganz in meine Ausbildung zu vertiefen. Und wahrscheinlich hätte ich die Probleme mit Ausbildern im Studium nicht so gut verkraftet, wenn ich keine Möglichkeit gehabt hätte, auf diese Weise mit mir selbst in Kontakt zu treten.

Und noch etwas anderes schätze ich an den Morgenseiten: Wenn ich mich mal nicht gut mit mir selbst fühle, weil ich z.B. zu viel gearbeitet habe, dann nehme ich mir einen alten Ordner und lese, manchmal stundenlang. Und dann ist es wieder da, das Leben zu jener Zeit, die alten Konflikte, die Träume, und ich kann sehen, was aus mir geworden ist, welchen Weg ich gegangen bin. Und das macht mich stolz.

Irgentwann tauchten dann Gedanken in mir auf, die mir zeigten, dass die Zeit der Angstgruppen zu Ende ging. Ich hatte das Bedürfnis nach etwas Lustvollerem als der Angst.
Eines Tages tauchte der erotische Salon einfach so aus dem Nichts auf, genau wie dieser Text, den ich jetzt geschrieben, aber nicht geplant habe. Den erotischen Salon habe ich mir selbst geschenkt, eigentlich Garfield, deshalb auch die genussvollen Rahmenbedingungen mit Sekt und Knabbereien.
Wahrscheinlich könnten Sie auf den Salon genau wie auf den Text verzichten, aber vielleicht nehmen Sie doch die eine oder andere Anregung für Ihr Leben mit. Das würde mich freuen.

Und nun am Ende des Textes hatten die drei Schreibenden durchaus Vergnügen und das Ich erlaubt die Veröffentlichung. Vielen Dank, dass Sie bis zu Ende gelesen haben,
Ich wünsche Ihnen ein gutes, neues Jahr. Mögen Sie viele neue Erfahrungen machen.

 

5 Kommentare
  1. Uwe Peter
    Uwe Peter says:

    Hallo Frau Jurgelucks,
    vielen Dank für den sehr locker geschriebenen Text … es ist das erste Mal, dass ich einen Ihrer Texte ohne Pause am Stück lese… insofern… ist Ihr Text bei mir „erfolgreich“ gewesen. Ich habe in den letzten Wochen mit manchem Vertrauten über den Begriff „resignative Reife“ gesprochen. Und bei den Meisten haben nur diese beiden Worte viel dazu beigetragen, sich damit zu beschäftigen. Ich für mich bin noch dabei, die vielerlei auftretenden Situationen darunter zu fassen. Es gelingt nicht immer, aber erhebt dieser Begriff Anspruch auf 100%ige Pflichterfüllung? Bei manchen Dingen verhalte ich mich bewusst „unreif“ …. aber genau das macht das Leben doch aus, oder? Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins Jahr 2015 und auf ein „irgendwanniges“ Wiedersehen. Ihr Uwe Peter

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    • Christiane Jurgelucks
      Christiane Jurgelucks says:

      Hallo Herr Peter,
      Danke für Ihre moralische Unterstützung des „Locker Seins“. In Bezug auf die resignative Reife fällt mir das Buch von Retzer ein: Das Lob der Vernunftehe. Ich persönlich mag das Wort Reife sehr, Resignation dagegen nicht so sehr. Klingt so depressiv. Ich mag eher das Gute im Schlechten zu sehen, und das finde ich nicht resignativ.
      Herzliche Grüße und auch Ihnen schönes Feiern und ein nicht zu resignatives neues Jahr.
      Christiane Jurgelucks

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  2. Schnupsipulami
    Schnupsipulami says:

    Also ich finde das Buch von Retzer ja klasse, hätte Lust, jetzt ein wenig drin zu blättern. So zwischen Weihnachten und Neujahr nicht die verkehrteste Literatur 🙂 – Leider sind gerade alle Bücher in Umzugskartons wegen Wohnungsrenovierung. Heute hat der Postbote glücklicherweise zum Trost ein neues Buch gebracht, Clinton Callahan heißt der Autor.

    Das mit dem morgendlichen Schreiben finde ich interessant, hatte da morgens auch schon so manchen merkenswerten Gedanken, ist eben wirklich so eine Art „wach und doch noch etwas am träumen“-Zustand. Aber drei Seiten und das jeden Tag? Hmm… für meinen morgendlich riesigen Garfield viel zu heftig, und Frau Rothenberger habe ich wohl zuwenig (das war doch die, die dem Naturkind Heidi die Flausen austreiben wollte, die soll mal schön in Frankfurt bleiben!).

    Für die Anregung vielen Dank. Ich werde mal drauf achten, meinem Tagebuch etwas mehr morgendliche Pflege angedeihen zu lassen.

    Sollte ich mal intensiv lesen, mein Tagebuch, das ich seit eineinhalb Jahren führe… Das nehme ich mir jetzt mal vorsätzlich vor. 2015 könnte daher spannend werden.

    Ihnen Frau Jurgelucks und allen Mitschreibern alles Gute im neuen Jahr!

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    • Christiane Jurgelucks
      Christiane Jurgelucks says:

      Bin gespannt, welche Erfahrungen Sie beim erneuten Lesen Ihres Tagebuches machen? Auch Ihnen ein ganz gutes und glückliches neues Jahr, und vielen Dank dafür, dass Sie so regelmäßig dabei sind.

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  3. Natur-Sinn
    Natur-Sinn says:

    Hallo liebe Frau Jurgelucks,
    wie erfrischend Ihr toller Artikel ist 😉 Besonders bei der Stelle mit dem Buchtipp „Rabe Socke“ an eine Ihrer Angstteilnehmerinnen, ließen mich herzlich lachen!
    Die morgendlichen Unterbewusstseinsseiten sind ein toller Tipp und möchte ich auf alle Fälle versuchen umzusetzen!Dankeschön!
    Herzliche Grüße
    Stefanie Seyfried

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