Warum geizen mit den Reizen – Von der Lust an der Verführung und der Scham, sich zu zeigen

1986 – Mein Abiturabschlussfest: Wir treffen uns in einem Lokal mit großer Bühne. Der Deutschleistungskurs, zu dem auch ich gehöre, hatte sich ein nettes Abendprogramm überlegt, welches unseren gemeinsamen und jetzt abgeschlossenen Schulalltag liebvoll auf die Schippe nimmt.  Alle Kollegiaten und LehrerInnen des Westfalen-Kollegs in Paderborn sind eingeladen, sich an unserem phantasievollen Programm zu erfreuen. Wir haben uns viel Mühe gegeben, geistreich und witzig zu sein. Als kleine Abwechslung zwischen eher humorvollen Einlagen, haben wir überlegt, das Publikum mit einer kleinen Irritation zu überraschen. Ein Nummerngirl ala` Ingrid Steeger sollte auftreten und mit ihrer naiven und etwas unterbelichtet wirkenden Art, dafür aber ihren Sexappeal ausspielend, unsere interlektuellen Einlagen einrahmen. (Ich hoffe, Sie kennen Ingrid Steeger noch)

Nur wer von uns sollte Ingrid Steeger spielen? Es musste ja eine Frau sein. Für die jüngeren LeserInnen unter Ihnen: Anfang der 80ger Jahre strickten Frauen und Männer im Unterricht, waren in der Regel konsumfeindlich, ernährten sich von Körnern und selbst geschrotetem Brot und trugen Kleidung, die man nicht unbedingt als „sexy“ definieren könnte. Zumindest war dies in unseren interlektuellen Kreisen so.

Da als Nummerngirl nur eine der wenigen Frauen im Deutschleistungskurs in Frage kommen konnten, und niemand, wirklich niemand in seiner Freizeit Highheels und Mini trug, sind wir ratlos.Schweigen.Suchendes Umherblicken.

Da ich schon immer – neben Ängstlichkeit – auch Mut besessen habe, höre ich mich sagen: „Ich mache es.“ Im nächsten Moment: „Oh Gott, Mist, warum habe ich mich gemeldet.“
Aus der Nummer kam ich beim besten Willen nicht mehr heraus. Meine Eltern haben mir leider beigebracht, unbedingt immer zu meinem Wort zu stehen. So kaufte ich mir meine ersten Highheels und lieh mir ein Kleid von meiner damaligen Mitbewohnerin. Eigentlich war es kein Kleid. Ich würde es eher als Schlauch, den Po gerade gürtelartig umschließend und den Körper nur an den notwendigen Stellen mit Stoff bedeckend, bezeichnen.

So sah ich also an jenem Abend aus. Vor dem Auftritt noch ein Glas Sekt auf Ex und hinaus auf die Bühne. Die Musik wummert, ich fühle Blicke auf mir, sehe Gefallen in den Augen der Zuschauer, spüre auf einmal die ungeheure Macht einer Frau und…..genieße, meine Weiblichkeit, das Angeschaut werden und den Flirt mit dem Publikum.
Nach meinem Auftritt kam als erstes mein alter Biolehrer auf mich zu: „Frau Jurgelucks, ich bin ja ganz erstaunt, das haben Sie ja nicht zum ersten Mal gemacht. Ich wusste gar nicht, dass so etwas in Ihnen steckt (ich galt damals eher als Interlektuelle, Frauenbewegte). Dann kam mein Lateinlehrer: „Super Auftritt“. Zwinkern in den Augen. Ich schien also noch ganz andere Qualitäten zu haben, als jene, die ich in mir sah.

Mitlerweile sind bald dreißig Jahre vergangen. Ich mag mich als Frau, mag auch zu verführen, geblieben ist aber die Scheu, mich zu zeigen oder mich – vor allem in der Öffentlichkeit – zu präsentieren.

Vor ein paar Monaten in meiner sexualtherapeutischen Weiterbildung. Thema ist der Selbstwert als Mann oder Frau und die Lust, sich zu zeigen, zu präsentieren. Wir erhalten die Aufgabe: Schreite wie eine Frau! (Was auch immer wir darunter verstehen mögen). Die Ausbilder und anwesenden Männer schauen zu. Das fühlt sich ziemlich unbehaglich an, aber ist machbar für mich. Ich spüre Scham und denke, wie ich wohl wirke, und ob man meine Unsicherheit sieht?
Die nächste Aufgabe: Präsentiere dich als Diva, unnahbar! Ich denke, das bin ich nicht. Als ich in die entsprechende Körperhaltung gehe, den Kopf ein bisschen hoch, den Rest sehr aufrecht, merkt mein Körper: Das bin ich doch. Das kann ich. Erleichterung. Ein Gedanke kommt: Bin ich arrogant, wirke ich arrogant? Ich weiß, dass meine Unsicherheit mich in diese Körperhaltung drängt und nicht die Diva in mir.
Dann kommt der nächste Hinweis: Wir erhalten eine Maske und ein Tuch, um das Becken zu betonen. Nun sollen wir die anwesenden Männer verführerisch umgarnen und anmachen. Ich fühle mich mehr als unbehaglich, einige Frauen machen nicht mit und ein paar wenige haben es wirklich drauf. Ich fühle mich hölzern, ungelenk und aus Unsicherheit übertreibe ich und bin dann mehr als froh, als der Schluss kommt. Ich schäme mich und denke gleichzeitig an die Frauen, die sehr verführerisch wirkten. Ich würde das auch gerne können.

Wieder zuhause, lässt mich die Erfahrung nicht los. Warum fällt mir und auch vielen anderen Frauen das Verführerische so schwer? Und ich nehme mir vor, ich will daran arbeiten. In den folgenden Tagen recherchiere ich im Internet, suche nach Filmen und Angeboten, die sich mit weiblicher Verführung beschäftigen… und entscheide mich für einen Kurs an der Volkshochschule – Burlesque, Cabaret-Style. Jetzt will ich wissen, ob ich das auch lernen kann, mich zu zeigen. Die erste Erfahrung zeigt, dass es geht, dass es sogar Spaß macht, genau wie bei meiner Abiabschlussparty 1986. Ich bleibe dran.

Die Woche darauf trifft sich der erotische Salon bei mir in der Praxis. Wir sind an diesem Abend inklusive mir nur fünf Frauen und diskutieren das gleiche Thema. Ich stelle meine Frage: Warum geizen mit den Reizen? Und die erste Reaktion ist: „Wenn ich reize, dann muss ich aber auch aushalten, wie das bei anderen ankommt.“ Eine andere Frau sagt: „Ich würde nur reizen, wenn ein Mann bei mir ist, sonst bin ich ja womöglich Freiwild.“ Wir diskutieren, mit welchen gesellschaftlichen Reaktionen eine Frau rechnen muss, die sich verführerisch zeigt, und wir stellen einhellig fest, dass es oft viel Mut braucht, mit Reaktionen umzugehen und viel Angst dabei ist, dass Männer zu weit gehen, aufdringlich werden könnten, die Botschaft eines Flirtes nicht deuten können, sondern uns Frauen belästigen und in Bedrängnis bringen. Einhellige Meinung: Dann doch lieber nicht.

Ein anderer wichtiger Punkt: Es braucht Mut, sich sehr eindeutig als Frau zu zeigen. Ich muss mich in meinem Körper wohl fühlen. Es ist hilfreich, meine Vorzüge zu kennen und die Gelassenheit zu besitzen, mit sogenannten Fehlern umzugehen. Es braucht außerdem den Willen, die Rolle der weiblichen Frau einzunehmen, nicht nur emanzipiert, tough, eine gute Mutter und Partnerin sein zu wollen, sondern ein bisschen Objekt der Begierde, ohne die Kontrolle darüber abzugeben. Sich seiner Macht als Frau bewusst sein. Vielleicht entwickeln wir diesen Mut eher, wenn wir schon etwas älter sind, wenn wir wesentliche Dinge im Leben schon geschafft haben und niemandem mehr etwas beweisen müssen. Dann finden wir endlich die Zeit und den Mut, uns mit unserem Frausein auseinanderzusetzen. Auch hier waren wir uns weitgehend einig mit einem „Schade“ auf den Lippen. Warum eigentlich erst jetzt?

Und wenn wir beim Mut sind, kommt auch ganz schnell das Thema: Neid unter Frauen. Wie sehen mich die anderen Frauen? Viele von uns fürchten hämische Kommentare, Tuscheln und Ausschluss. Wir könnten nicht mehr dazugehören.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Mütter von Kleinkindern treffen sich regelmäßig auf dem Spielplatz. Wir reden über unsere Kinder, kleinere Probleme, Ernährung und vielleicht noch etwas über Frühförderung unserer Liebsten. Und natürlich reden wir auch über unsere Liebesbeziehungen. Irgentwie hat sich etwas verändert. Seitdem wir Eltern sind, haben wir keine Lust mehr und totmüde fallen wir ins Bett. Aber der Mann an unserer Seite beschwert sich: Wieder keinen Sex. Wir alle sind in diesem Erleben verbunden.
Dann kommt SIE, eine ziemlich attraktive Frau, High Heels auf dem Spielplatz, setzt sich auf eine Bank, lässt ihr Kind allein spielen und telefoniert ganz offensichtlich mit einem Mann, flirtet, gurrt, lacht. Was glauben Sie, was die anderen Frauen dazu sagen? Sie können sicher sein, dass die Kommentare nicht wertschätzend sind, vielleicht etwas versteckt, aber deutlich.“Schau mal, die kümmert sich gar nicht um ihr Kind.“ „Also mir wären die Schuhe ja zu unbequem.“ „Bestimmt wieder eine die sich Quality Time in Ihren Kalender eingetragen hat, und dann doch telefoniert.“ Diese Frau hat keine Chance, in den Kreis der Spielplatzmütter aufgenommen zu werden. Verhalte ich mich als Frau nicht konform, muss ich Einsamkeit ertragen können. Also passen wir uns manchmal mehr an, als uns gut tut.

Wir reden weiter über Frauen und kommen zum Thema: Emanzipation und Frauenbewegung. Die meisten am Salon teilnehmenden Frauen sind zwischen 40 und 60. Fast alle haben sich zeitweilig mit der Frauenbewegung und allem voran Alice Schwarzer identifiziert. Wir wollten kein Objekt mehr sein. Wir wollten keine Zudringlichkeit. Wir wollten nicht aufgrund unserer optischen Reize wertvolle Frauen sein. Also wurden wir ein bisschen wie Männer, und darin liegt ein Teil des Konfliktes. Für Erotik und Verführung braucht es die weibliche und die männliche Rolle. Zur weiblichen Rolle gehört das sich Schmücken und Zeigen: Schau her, das bin ich, und ich fühle mich wohl so! Lange schien diese Rolle mit der Emanzipation nicht vereinbar. Der Feminismus junger Frauen wirkt da etwas offener aber wir älteren sind anders sozialisiert.

Ein letzter spannender Punkt in der Diskussion: Sexualität versus Bildung. Diesen Punkt haben wir mit viel Freude diskutiert. Können wir Menschen, und jetzt sprechen wir von Männern und Frauen, interlektuell ernst nehmen, wenn diese sehr attraktiv sind? Wir haben Tränen gelacht, als uns dämmerte, wie wir in unseren Vorurteilen gefangen sind. Eine Teilnehmerin berichtete von einem sehr attraktiven Hochschullehrer, den sie sehr gern anschaut, und sie sich dabei aber immer wieder wundert, dass er auch geistreich sprechen kann. Sie sagte: „Ich muss mir immer wieder verdeutlichen, dass der ja was können muss, sonst wäre er ja kein Prof. Aber ich ertrappe mich immer wieder, dass ich denke: Wer so gut aussieht, hat interlektuell nichts auf dem Kasten.“
Ich erzähle von meinem Wohnviertel. Ich nenne es Akademikerghetto. Auch hier extrem wenige Menschen, die sich in ihrer männlichen und weiblichen Rolle zeigen. Die Frauen betonen nicht, was sie haben und die Männer auch nicht. Da kommt niemand in Versuchung.
Wir kommen auf Sprüche. Verzeihen Sie meine Sprache. Dumm f…… gut. Schon mal gehört? Fast alle Frauen kennen pfeifende Bauarbeiter, anzüglich schauende Arbeiter, aber so gut wie keine hat je erlebt, dass eine Runde Wissenschaftler offensichtlich und anerkennend flirtet.

Während meines Studiums machte meine von mir sehr geschätzte Freundin Dorothee ein Referat über Partnerwahl, und in diesem Zusammenhang sprach sie vom Körperkapital, was vor allem dann zum Einsatz kommt, wenn wenig andere Ressourcen vorhanden sind. Schade eigentlich. Aber es scheint ganz tief in uns zu sitzen. Wenn wir unsere Bildung betonen wollen, dann scheinen wir uns nicht gern sexuell zu zeigen. Als könnten wir Bildung und Sexualtität nicht verbinden. Dabei braucht aus meiner Sicht Erotik beides: Köpfchen und Körper.

Das könnte eigentlich ein gutes Schlusswort sein, aber ich möchte noch kurz auf die Scham zu sprechen kommen. Schamgefühle treten immer dann auf, wenn Verletzung der persönlichen oder sozialen Grenzen droht. Im Schamgefühl bewerten wir uns selbst, oder wir sehen uns von außen bewertet. Beides kann massive Konflikte mit sich bringen. Wird unser Verhalten von außen als nicht passend beurteilt, werden wir dafür sanktioniert. Es droht Ausschluss und Einsamkeit. Beurteilen wir selbst ein Verhalten als nicht zu unseren Werten passend, fühlen wir uns nicht authentisch, sondern irgentwie falsch und der Täuschung schuldig. Scham ist ein sehr schwieriges Gefühl, und am liebsten würden wir die Scham vermeiden, davonlaufen. Wenn wir Verführung lernen wollen, dann ist eine Auseinandersetzung mit der Scham unabdingbar.

Durch meine Praxistätigkeit weiß ich, dass dieses Thema nicht nur Frauen betrifft, auch Männern – gerade den reflektierten und gebildeten unter ihnen – fällt Verführung irre schwer. Kann ich das überhaupt? Wie mache ich das, ohne zu bedrängen? Was wollen Frauen überhaupt? Oder:
Ich habe schon alles probiert. Es ist nie richtig!
Vielleicht können die Erfahrungen von Männern an dieser Stelle zu einem späteren Zeitpunkt lesbar werden.
Wenn Sie Lust haben, teilen Sie Ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit mir. Ich bin neugierig und gespannt, denn zum Thema Verführung ist definitiv noch nicht alles an dieser Stelle gesagt.

4 Kommentare
  1. Schnupsipulami
    Schnupsipulami says:

    Die „Macht der Verführung“- vielleicht auch ein generationsspezifisches Problem. Evtl. ist bei so manchem Mitglied der Emma-Generation einfach die Pubertät misslungen und es wurden stattdessen die elterlichen Introjekte gegen das Schwarzer’sche Introjekt (Frau = Opfer , Mann = Täter) ausgetauscht. Und so gestaltet es sich halt mitunter schwierig, dass frau/mann sich der eigenen Macht als verführererische/r Frau/Mann bewusst wird.
    Umgekehrt ist es für den Verführten auch nicht einfach, die Machtlosigkeit zuzulassen: denn wer sich nicht wehrt, der ist doch verkehrt … oder?

    Ziemlichen Respekt habe ich übrigens für Ingrid Steeger, eine in meinen Augen inzwischen, nach Missbrauch, Abhängigkeit und Depression, wirklich emanzipierte Frau…

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    • Christiane Jurgelucks
      Christiane Jurgelucks says:

      Das interessiert mich – die männliche Sicht auf die Verführung. Hätten Sie Lust einen Gastbeitrag zu schreiben?
      Herzliche Grüße
      Christiane Jurgelucks

      Antworten

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