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149 – Eine Zahl bekommt plötzlich Bedeutung für mich

IQ 149 - Höchstbegabung

Andreas JurgelucksIch möchte vorwegschicken, dass es in diesem Text ausschließlich um meine ganz persönlichen Erfahrungen, Erlebnisse, Erkenntnisse und Emotionen in Bezug auf Höchstbegabung geht. Ich erhebe keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und möchte niemanden belehren. Dennoch hoffe ich, dass dieser Text vielleicht behilflich sein kann, sich selbst und die eigenen Besonderheiten besser einordnen oder vielleicht sogar verstehen zu können. Und vielleicht kann ich damit Eltern, Lehrer, Pädagogen etc. ermuntern, bei gewissen Themen etwas genauer hin zu schauen. Darüber hinaus wird dieser Text vermutlich mit der Zeit noch weiter wachsen.

Worum geht es in diesem Text?

Vermutlich werde ich den 16.07.2025 nie wieder vergessen. Nach langem Ringen und Überlegen hatte ich mich – aus Gründen, die ich später beschreiben werde – dazu entschlossen, eine sogenannte Begabungsdiagnostik bei Dr. Karin Joder, Gründerin der Plattform CleverPeople, durchführen zu lassen. Im Rahmen dieser Diagnostik wurde ein IQ-Test – der WAIS IV (Wechsler adult intelligence scale) – durchgeführt, ein weltweit anerkannter, verlässlicher und vergleichbarer Test. Ich hatte bis dahin schon vermutet, dass ich vielleicht irgendwo im Bereich 120 bis vielleicht 130 landen würde. Am Ende des Tests sagte mir Frau Joder, dass sie nun etwa eine Viertelstunde für die Auswertung benötigen würde. „Und stellen Sie sich schon mal drauf ein, dass Sie jenseits der 140 landen werden.“. Ich starrte sie nur an, und das Einzige, was ich hervorbrachte, war „Was?!?“.

Nach einer schier endlos empfundenen Viertelstunde erschien Frau Joder wieder am Bildschirm. Mit ernster Miene verkündete sie: „Sie haben einen Gesamtscore von 149 erreicht. Ab 146 spricht man nicht mehr von Hochbegabung, sondern von Höchstbegabung. Sie haben einen IQ, der höher liegt, als bei 99,9% der Bevölkerung. Einer von Tausend. Das darf sich vermutlich erstmal setzen.“ Wieder konnte ich sie nur ungläubig anschauen, und wieder kam erstmal nur „Was?!?“.

Wir sprachen noch eine gute Stunde, über meine Ideen, was ich nun mit diesem Ergebnis, oder besser: Mit diesem Bewusstsein anfangen wolle, und Frau Joder gab mir noch verschiedene Ratschläge, in welcher Richtung ich mich vielleicht mal umschauen könnte.

Nach dem Ende des Gesprächs war ich vor allem Eines: Verwirrt. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Das, was ich bisher als mein Leben erlebt habe, geriet plötzlich ins Wanken. Eine emotionale Melange aus Freude, Trauer, Wut, Staunen, vielleicht etwas Angst und weiteren Gefühlen, die ich in dieser Dichte und Wucht nicht mehr wahrnehmen, geschweige denn, verarbeiten konnte, stürmte auf mich ein. Die Tränen standen mir in den Augen. Ich wusste nicht, wohin mit diesen ganzen heftigen, teilweise widerstrebenden Gefühlen. Und in meinem Kopf ging es genauso ab. Mir war schwindelig von dem emotionalen Chaos und den Gedanken, die über mich hinweg tobten wie eine riesige Welle. Was bedeutete das? Was mache ich damit? Was bedeutete das für mein bisheriges Leben? Funktioniert der Test vielleicht nicht richtig? Hat sich Frau Joder vielleicht vertan? Habe ich durch irgendeinen seltsamen Zufall dieses Ergebnis erzielt? Und eine Frage tauchte natürlich ebenfalls auf, die mich schon fast mein ganzes Leben begleitet hat: Wenn ich doch den Eindruck habe, ein Hochleistungs-Rechenwerk im Kopf zu haben und mir das auch noch von anderen Menschen gespiegelt wurde: Wie um alles in der Welt konnte ich ein dermaßen schlechtes Abi machen? Warum lief mein Uni-Studium so schlecht?

Dieser Zustand hielt tatsächlich ganze zwei Tage an. Noch am selben Abend berichtete ich wie in Trance meiner Frau von meinen Erlebnissen, von meiner Fassungslosigkeit, von den Fragen, die ich mir stellte. Unter anderem aufgrund der Tatsache, dass ich im Bereich Sprachverständnis den höchsten Teil-Wert erreicht hatte und sie meine Verwirrung sehr deutlich spürte, riet sie mir, von jetzt an meine weitere Entwicklung aufzuschreiben. Und am besten so direkt, wie ich es erlebe, wie ich es empfinde, mit allen Gedanken und Emotionen und Fragen. Darüber hinaus meinte sie, vielleicht könnte das, was ich erlebt habe und gerade durchlebe, für andere Menschen interessant sein, die Ähnliches erleben und so wie ich bisher keine Ahnung von den wirksamen Mechanismen haben. Und so entstand die Idee zu diesem Blog. Heute, am 18.07.2025, beginne ich damit, diesen Blog zu schreiben.

Der klassische „Underachiever“

Im Laufe meines Lebens gab es einige Punkte, die mir auf der einen Seite Hinweise darauf gaben, dass ich möglicherweise eine andere Denkstruktur oder Denkweise haben könnte, als viele andere Menschen. Dazu gehörte, dass ich im Alter von etwa 9 Monaten anfing, in ganzen Sätzen klar artikuliert zu sprechen. Nicht viel später fing ich an, zu laufen. Später im Vorschulalter hatte ich eine Tafel, auf der umlaufend um den Rand die Buchstaben des Alphabets sowie die Ziffern 0 – 9 geprägt waren, sodass ich die Buchstaben und Ziffern sehr früh kannte. Im Alter von 4 Jahren fuhr ich mit meiner Mutter mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt zum Einkaufen. Dort sah ich auf der Straße riesige Lettern und ich fragte: „Mama, Beh – Uh – Ess – was heißt das?“. Meine Mutter erklärte mir daraufhin, dass man das nicht Beh – Uh – Ess aussprach, sondern B – U – S. Das war für mich der Moment, wo ich verstand, wie lesen funktioniert und wenn ich meiner Mutter glauben darf, habe ich von da an alles Mögliche in Zeitungen, Büchern etc. gelesen, was ich erwischen konnte – wohlgemerkt mit 4 Jahren. In den bald folgenden Schuljahren habe ich mich unglaublich gelangweilt. Alles erschien mir zu langsam, zu einfach, zu profan. Gleichzeitig wusste ich nicht, wohin mit meiner Ohnmacht, dort sitzen zu müssen, nicht ständig die Lösung sagen zu dürfen und keinerlei Herausforderung zu erleben. Mein Klassenlehrer in der ersten Klasse bat meine Eltern inständig, sie sollten mich Klavier oder irgendein anderes Musikinstrument lernen lassen, mich irgendwie beschäftigen. In der zweiten Klasse „bekniete“ (Originalton meiner Mutter) ein anderer Klassenlehrer meine Eltern, sie mögen mich eine Klasse überspringen lassen. Beides passierte nicht. Hinzu kam, dass ich mit meinen Eltern zwischen meiner Geburt und der allgemeinen Hochschulreife insgesamt fünfmal umgezogen bin (oder besser: wurde) und viermal die Schule wechseln musste. Das führte bei mir einerseits dazu, dass ich unglaublich gut gelernt habe, mich an neue Umgebungen anzupassen, andererseits war damit ganz klar, dass meine Wünsche, Interessen und Bedürfnisse nicht wichtig sind. Planen brauchte ich nicht, denn früher oder später wurden meine Pläne sowieso zerstört, zerplatzten wie Seifenblasen. Wozu also träumen oder Visionen nachhängen?

Bis zum Abitur habe ich so gut wie nie wirklich ernsthaft etwas lernen müssen, was leider zur Folge hatte, dass ich nie das Lernen gelernt habe. Hinzu kam, dass mein letzter Schulwechsel unmittelbar vor der Kursstufe stattfand, was zum völligen Verlust meiner Motivation führte. Dementsprechend habe ich ein ziemlich miserables Abitur sowie im folgenden Chemie-Studium ein ähnlich schlechtes Diplom hingelegt. Dazwischen lag noch der Grundwehrdienst, den ich als die größte und unangenehmste Zeitverschwendung meines Lebens empfand. Wieder unendliche Langeweile, wieder Ohnmacht. Erstaunlicherweise gab es aber auch durchaus Erfolge zu verbuchen. So habe ich gegen Ende meines Diplom-Studiengangs Chemie einen Ergänzungsstudiengang Strahlenschutz und -messtechnik absolviert. Die Durchschnittsnote war „Sehr gut“, was mich mit einigem Erstaunen zu der Erkenntnis brachte: „Hey, ich bin wohl doch nicht so blöd!“. Ich brach meine Promotion ab, wechselte nach dem Chemiestudium mit Unterstützung eines alten Schulfreunds sozusagen ungelernt in die SAP-Welt und lernte autodidaktisch die SAP-eigene Programmiersprache sowie den technischen Unterbau, die sogenannte SAP Basis. In diesem Bereich bin ich bis heute erfolgreich tätig. Viel später in meinem Leben absolvierte ich den berufsbegleitenden Master-Studiengang Sexologie an der Hochschule Merseburg. Auch in diesem vollkommen anderen Bereich erzielte ich gute bis sehr gute Ergebnisse – wiederum ohne besondere Lernbemühungen.

Was ich damit ausdrücken möchte: Hochbegabung hat mitnichten grundsätzlich etwas mit schulischen oder sonstigen Leistungen zu tun. Im Gegenteil, es gibt genug Beispiele, die zeigen, dass Hoch- und Höchstbegabte genau so mit Problemen zu kämpfen haben wie alle Menschen und nicht automatisch „Genies“ oder „Überflieger“ sind.

20.07.2025: Der leere Dachboden

Nach wie vor passiert sehr viel emotional in mir. Für die folgende Beschreibung muss ich etwas ausholen, damit klar wird, wovon ich spreche. Ich habe schon ziemlich lange das seltsame Gefühl, in meinem Kopf ist irgendwie nichts los. Ich höre von allen möglichen Seiten, worüber sich Menschen Gedanken machen und ich stehe daneben, bin still und frage mich, was mit mir nicht stimmt. Wenn ich irgendeine Tätigkeit ausübe, bin ich natürlich konzentriert bei der Sache, und meistens gelingt mir das, was ich mir vorgenommen habe, gut. Trotzdem gibt es diese Phasen, in denen ich das Gefühl habe, ich bekomme meine Gedanken nicht richtig zu fassen, als würden sie mir entgleiten oder sich mir sogar aktiv entziehen. Ich erinnere mich an eine Zeit in meiner frühen Jugend, wo ich das dumpfe Gefühl hatte, meine bis dahin empfundene geistige Klarheit würde mehr und mehr in einem Nebel versinken, und mit ihr meine Erinnerungen.

Viel später, nämlich vor vielleicht drei oder vier Jahren, entstand, sozusagen als Repräsentation meines Bewusstseins, in einem Trance-artigen Zustand vor meinem geistigen Auge ein Bild von einem vollkommen leeren, sauber gefegten und sehr großen Dachboden. Keine Schränke, keine Gegenstände, vollkommene Leere. In der Mitte des Holzfußbodens befand sich eine große Luke, eine Art Falltür. Und darunter, unterhalb meiner bewussten Wahrnehmung, herrschte das pure Chaos. Ich hatte das Bild von lauter Seilen und Bändseln in den verschiedensten Stärken, Materialien und Farben vor mir. Ohne irgendeinen Zweifel war mir klar, dass das meine Gedanken und Erinnerungen waren. Und manchmal, in einem unbeobachteten oder unbedachten Augenblick, schlängelten sich vereinzelte Seile, Schnüre oder Bändsel aus der Bodenluke nach oben. Das waren Assoziationen, die in den unmöglichsten Augenblicken in mein Gedächtnis krochen, schlängelten oder sprangen. Einen direkten Auslöser für diese Assoziationen konnte und kann ich eher selten benennen, sie kommen einfach, sprießen wie wilde Blumen hervor und wollen beachtet, gesehen oder manchmal auch ausgesprochen werden.

Das mag vielleicht im ersten Moment lustig klingen. Das Problem daran ist, dass ich relativ häufig den Eindruck habe, dass ich – wenn ich auf eine Erinnerung, einen Gedanken, einen Namen oder was auch immer zugreifen will – das, was ich in diesem Moment gerade brauche, manchmal einfach nicht zu fassen bekomme. Ich habe dann das Gefühl, ich wühle von oben in dem Chaos von schlängelnden und wuselnden Seilen herum und hoffe, irgendwie das richtige Ende dessen zu fassen zu bekommen, was ich gerade suche. Manchmal gelingt mir das, mitunter sogar sehr schnell, manchmal aber auch nicht oder erst nach einer halben Stunde.

Vorgestern hatte ich eine Art Epiphanie. Ich stellte mir die Frage: Was, wenn ich vielleicht selbst – unbewusst – diesen Dachboden „gebaut“ habe? Um alles, was in mir war, Gedanken, Ideen, Gefühle, Assoziationen, im wahrsten Sinne des Wortes „unter dem Deckel“ zu halten? Weil das alles nicht erwünscht war? Denn ein Gefühl begleitet mich, so lange ich mich erinnern kann: Meine Umwelt schien mich irgendwie komisch, seltsam, anders oder fremdartig wahrzunehmen. Leider weiß ich nicht mehr, wo ich es gelesen habe, aber ich bin so dankbar für einen Satz, der mein Lebensgefühl wunderbar auf den Punkt bringt: Sorry, wrong planet!

Wenn man die einschlägige Literatur zum Themenkomplex Hoch- und Höchstbegabung und Hochsensibilität liest, stößt man mehr als einmal auf die Beschreibung dieses Lebensgefühls und dessen Folgen, was ich vollkommen bestätigen kann. Ich habe bereits sehr früh im Leben gelernt, dass meine Art zu denken, mich auszudrücken, meine Wahrnehmungen und Bedürfnisse zu äußern, in meiner Umwelt seltsam, unpassend oder fremdartig aufgenommen oder einfach nicht verstanden wurden. Natürlich habe ich als Kind daraus gefolgert, ich würde irgendwie alles falsch machen, letztlich falsch sein. Mein ganzer Lebensausdruck schien „falsch“. Also habe ich das gemacht, was offenbar viele hoch- und insbesondere höchstbegabte Kinder machen: Ich habe mir von anderen Kindern und Erwachsenen das vermeintlich „richtige“ Verhalten abgeschaut und dieses nachgeahmt. Erst heute ist mir bewusst, dass ich mich dadurch vollständig und bis zur Unkenntlichkeit verbogen habe. Es sollte schließlich niemand mehr merken, wie seltsam oder wie anders ich war. Ich hatte wie vermutlich jedes Kind den innigen Wunsch, irgendwie dazu zu gehören, nicht ausgegrenzt zu werden. Leider hat diese Art der Verbiegung einen hohen Preis: Sie kostet unglaublich viel Kraft, mit der Folge, dass ich schon seit vielen Jahren unter chronischen Rückenschmerzen, häufiger Erschöpfung und einer insgesamt sehr hohen Anspannung leide.

Die Weiterführung des obigen Gedankengangs führte mich zu der Frage: Was würde eigentlich passieren, wenn es mir gelänge, die Falltür in meinem „Dachboden“ zu öffnen? Und einfach offen stehen zu lassen? Und wenn ich früher oder später den gesamten Boden herausreißen könnte? Versinke ich dann in vollkommenem kognitiven Chaos? Oder könnte es vielleicht gelingen, das, was ich tief im Innersten in mir vergraben und versteckt habe, vorsichtig heraus zu holen, im wahrsten Sinne des Wortes, zu „entfesseln“? Mich zu ent-wickeln? Was würde das bedeuten? Könnte ich endlich meine so lange schmerzlich vermisste Kreativität entdecken? Würde ich vielleicht manche Dinge viel leichter verstehen können? Ist dort vielleicht ein unglaublicher Schatz, ein riesiger geistiger und seelischer Quell verborgen? Unentdeckte Potenziale, die ich entfalten könnte? Auf alle diese Fragen habe ich zum jetzigen Zeitpunkt keine Antwort. Dennoch habe ich mir kürzlich im Halbschlaf vorgestellt, wie ich diese Falltür öffne. Und in hohem Maße erstaunt registrierte ich, dass ein Teil der Seile ganz „gesittet“ hervorkam, in beinahe tänzerischer Eleganz umeinander und um meine (imaginären) Füße schlängelten und auf dem Boden eine vielleicht zehn oder fünfzehn Zentimeter dicke Schicht bildeten. Kurzzeitig hatte ich das Gefühl, aus der Falltür würde ein riesiges Knäuel mit unbändiger Kraft nach oben drängen und den Boden einfach sprengen, so dass die Holzdielen schon ächzten und knarrten. Aber das geschah nicht. Das ganze Szenario beruhigte sich, und ich hatte ein beinahe zärtliches Gefühl für alle um mich herumwuselnden Seile, die ja meine eigenen Gedanken darstellten. Ich bin sehr neugierig, wie es damit weiter geht.

21.07.2025: Knoten im Gehirn

Ein Thema, was nach meinem Empfinden wunderbar zu meinem „Dachboden-Thema“ passt, ist mir auch noch nicht so lange bewusst. Seit ich in der Schule schreiben gelernt habe, begleiteten mich Kommentare von Lehrern wie z.B. im Zeugnis „Bei schriftlichen Aufgaben ist Andreas umständlich und langsam“ oder in der Benotung von Aufsätzen: „Rechtschreibung: 1, Inhalt: 2, Äußere Form: 5“. An meiner Handschrift und dem Schriftbild ließ niemand ein gutes Haar. Ich selbst hatte ständig Schmerzen und Krämpfe in der Hand, wenn ich mehr als eine halbe DIN A4 Seite schreiben musste. Und so richtig schön fand ich meine Handschrift auch nicht. Aber es war nun mal meine Handschrift. Irgendwann während des Studiums verbreiteten sich Personal Computer immer stärker, und ich war froh, endlich einen Weg nehmen zu können, mich schriftlich auszudrücken, so dass andere Personen außer mir selbst in der Lage und Willens waren, meine Texte zu lesen. Spätestens seit meinem Einstieg in die IT-Welt brauchte ich fast überhaupt nicht mehr handschriftlich zu schreiben, mal abgesehen von kurzen Notizen nebenbei, die nur für mich selbst bestimmt waren.

Vor mittlerweile achteinhalb Jahren begann ich – zum ersten Mal in meinem Leben – Tagebuch zu schreiben. Da ich so lange nicht mit der Hand geschrieben hatte, fiel mir das anfänglich ganz schön schwer, insbesondere, weil ich eine besondere Form Tagebuch führe, nämlich „Morgenseiten“ nach Julia Camerons Buch „Der Weg des Künstlers“. Das bedeutet vor allem, drei Seiten am Stück zu schreiben – eine ziemliche Herausforderung für jemanden, der noch nie Tagebuch geschrieben hat und noch dazu so stark beim Schreiben aufdrückt, dass die Hand spätestens nach einer Seite schmerzt.

Vor etwa sechs Jahren las ich irgendwo, man solle doch mal ausprobieren, mit der anderen (also nicht der üblichen) Hand zu schreiben, das könne unter Umständen die Kreativität fördern. Also probierte ich aus, mit links zu schreiben, da ich mich, so lange ich mich erinnern kann, als Rechtshänder verortete. Die ersten Versuche waren noch schwieriger als das Schreiben mit rechts, denn das Schreiben mit links hatte ich ja in meinem Leben so gut wie nie eingeübt. Dennoch versuchte ich es immer wieder, und überraschenderweise wurde die Schrift in relativ kurzer Zeit einfacher, besser lesbar und die linke Hand schmerzte nicht mehr so. Was mir noch seltsamer vorkam, war der Punkt, dass ich mit links weniger starken Druck ausübte. Vor fünf Jahren schenkte mir meine Frau einen wunderschönen Füllhalter. Damit ließ es sich insgesamt viel leichter schreiben, insbesondere mit links, da die Schreibrichtung mit der linken Hand für eine Kugelschreibermine eine echte Herausforderung ist.

Mit der Zeit fielen mir hin und wieder Ungereimtheiten auf. Bestimmte Tätigkeiten, die die Rechtshänder aus meinem Umfeld in einer bestimmten Art und Weise erledigten, machte ich „andersherum“. Die meisten mir bekannten Rechtshänder drehen einen Drehverschluss (egal, ob von Flaschen, Dosen oder sonstigen Behältern) mit der rechten Hand auf und zu, während sie das eigentliche Gefäß mit der linken Hand festhalten. Ich mache das genau umgekehrt. Mir fällt es ziemlich leicht, Spiegelschrift zu lesen und zu schreiben. Letzteres mit der linken Hand noch leichter als mit rechts. Ich halte Spielkarten in der Rechten, fächere sie andersherum auf, als die mir bekannten Rechtshänder und spiele mit links aus. Alles keine bahnbrechenden Dinge, aber die Indizien mehrten sich. An einem Abend vor vier Jahren fragte mich dann eine Bekannte, die bei uns übernachtete, etwas überraschend, ob es möglich sei, dass ich ein umgelernter Linkshänder sei, denn auch ihr fielen ein paar Handgriffe auf, die sie scheinbar ungewöhnlich fand.

Im ersten Moment wehrte ich das ab. Das war unvorstellbar, denn ich lebte doch seit über fünfzig Jahren als „gefühlter“ Rechtshänder. Und ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, in der Schule umerzogen geworden zu sein, was ja früher z.T. noch mit körperlicher Gewalt durchgeführt wurde. Gleichzeitig gab es in mir eine seltsame Resonanz, die ich nicht so recht deuten konnte. Also begab ich mich auf die Suche. Ich durchforstete das Internet nach allen möglichen Hinweisen, die „typisch für Linkshänder“ sein sollten. So richtig eindeutig fündig wurde ich aber nicht. Die angeblich „eindeutigen Tests und Hinweise“, die man zuhauf auf Youtube findet, trafen nur halb oder gar nicht auf mich zu. Dann stieß ich auf das Buch „Der umgeschulte Linkshänder oder Der Knoten im Gehirn“ von Dr. Johanna Barbara Sattler (Sattler, 2000). Und darin stolperte ich über diverse Punkte, die mich dann doch stutzig werden ließen. Es waren gar nicht so sehr die auf Youtube gefundenen Merkmale oder Tests, sondern vielmehr Persönlichkeitsmerkmale, psychische Auffälligkeiten, unregelmäßiges und „schlechtes“ Schriftbild, die von mir beschriebenen Schmerzen in der Schreibhand und – das fand ich besonders bemerkenswert – eine starke Schwiele am Mittelfinger durch den hohen Schreibdruck, genau, wie ich sie sehr lange Zeit hatte. Vollkommen überrascht las ich, dass „besonders die aufgeweckten, willensstarken und intelligenten Kinder“ (ebd., S. 52) sich selbst umschulen, weil sie wahrnehmen, dass die meisten Kinder (und auch Erwachsene) aus dem Umfeld mit rechts schreiben. Damit wären wir wieder beim Thema „dazu gehören wollen“. Wir leben in einer Rechtshänder-Welt. Versuchen Sie mal, mit der linken Hand etwas mit einer gewöhnlichen Schere aus Papier auszuschneiden oder einen mechanischen Dosenöffner mit links zu bedienen.

Das veranlasste mich, eine Ergotherapeutin aufzusuchen, die eine Testung durchführte. Am Ende der Testung konstatierte die Therapeutin: „Für mich sind Sie ganz eindeutig ein umgeschulter Linkshänder!“. Rumms! Viel mehr als die Aussage an sich überraschte mich die emotionale Welle, die diese Aussage auslöste. Mit einer derartig heftigen emotionalen Reaktion hatte ich wirklich nicht gerechnet.

Fortan schrieb ich ganz bewusst nur noch mit der linken Hand, und zu meinem Erstaunen wurde die Schrift innerhalb von vielleicht drei Monaten deutlich ansehnlicher, als alles, was ich jemals mit rechts zustande gebracht hatte. Und ich konnte (und kann) endlich meine drei DIN A4 Seiten am Stück schreiben, fast ohne Ermüdung der Schreibhand!

Die Tücke der Umschulung ist, dass das Hirn einen dermaßen großen Aufwand treiben muss, um die Worte aus dem Bewusstsein auf das Papier zu bringen, dass Frau Sattler die Auswirkungen tatsächlich als „Knoten im Gehirn“ beschreibt. Sie berichtet unter Anderem von Wortfindungsstörungen, Blackouts und Ängsten, die durch die Umschulung auftreten können. Schreiben ist ohnehin eine der komplexesten Tätigkeiten, die das menschliche Hirn zu leisten vermag, an der mehrere Areale in beiden Hirnhemisphären beteiligt sind. Durch die Umschulung kommen nun noch diverse zusätzliche Schritte hinzu, die den Abgleich der beiden Hemisphären über das Corpus Callosum (den „Balken“) erfordern. Dieser zusätzliche Aufwand erfordert zusätzliche Energie, weshalb Frau Sattler von einer deutlich schnelleren Ermüdung bei umgelernten Links- (oder Rechts-)Händern schreibt. Und nach Frau Sattler bringt die Rückschulung auf die eigentlich dominante Hand leider nicht den gewünschten Effekt, dass dann alles wieder „normal“ läuft, sondern es gibt im Gegenteil noch weitere, zusätzliche Abgleich-Schritte zwischen den beiden Hemisphären, was die Lage sogar nich verschlimmern kann.

Ich habe mich dennoch dazu entschieden, zumindest mein Tagebuch mit links weiter zu schreiben, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich sowohl inhaltlich, als auch stilistisch deutlich anders schreibe, als mit rechts.

24.07.2025 Ein hochempfindliches Nervensystem

Kennen Sie das auch, wenn Sie am Eingang einer Kirmes oder eines Volksfest-Platzes stehen und Sie werden fast erschlagen von einer olfaktorischen Frontalattacke aus Bier, Schmalzgebackenem, Bratwurst, Backfisch, Erbrochenem und diversen „menschlichen“ Gerüchen? Nein? Nun, für mich ist das ein schier unerträglicher Angriff, weshalb ich mich inzwischen von solchen Ereignissen fernhalte. Abgesehen von dem bunten Geblinke und Geflackere sowie mindestens drei unterschiedliche „Musik“-Stücke gleichzeitig in ohrenbetäubender Lautstärke, gemischt mit gröhlenden Betrunkenen, schreienden Kindern und die über Lautsprecher ihre Attraktionen ankündigenden Fahrgeschäft-Betreiber.

Ich kenne die beschriebenen Empfindungen, solange ich Jahrmärkte kenne, konnte sie nur früher nicht so genau benennen und ich wusste nicht mal, woher mein Unwohlsein und mein „Ich-will-hier-weg“ Gefühl rührte. Ich habe irgendwie funktioniert. Eine Kirmes ist doch schließlich etwas ganz Großartiges, insbesondere für Kinder.

Inzwischen habe ich gelernt, dass die beschriebenen Missempfindungen beileibe nicht jeder Mensch hat. Das bestätigt sich für mich sehr häufig, wenn ich z.B. am Bahnhof stehe, ein Zug mit unerträglichem Quietschen der metallenen Räder auf den Metallschienen einfährt und der bei Weitem größte Teil der Reisenden vollkommen ungerührt daneben steht, während ich mir die Ohren zu halte, weil mir dieses Geräusch tatsächlich physische Schmerzen bereitet. Das Gleiche gilt übrigens für Martinshörner, insbesondere die Pressluft-betriebenen.

Ein Erlebnis der besonderen Art hatte ich, als ich in Hamburg aus der Spitalerstraße auf den Hauptbahnhof zu ging. In etwa 50 Metern Entfernung wogte mir eine Menschenmenge entgegen, die vermutlich gerade von einem ICE auf den Bahnhof gespuckt worden war, und die sich nun geballt auf mich zu bewegte. Ich hatte den Eindruck, ich werde von einer Druckwelle übergewalzt. Ich musste tief Luft holen und mich sehr zusammenreißen, damit ich nicht die Flucht ergriff, denn ich wollte ja zum Bahnhof und einen Zug erwischen.

All das sind einzelne Phänomene, die ich in den letzten Jahren zunehmend bei mir wahrgenommen habe und die in jüngerer Zeit unter dem Etikett „Hochsensibilität“ subsumiert werden. Bemerkenswert finde ich, dass es so zu sein scheint, dass die beschriebene hohe Empfindsamkeit des Nervensystems (die übrigens auch oft mit einer niedrigeren Schmerztoleranz, höherer Koffein- und Medikamenten-Sensitivität einhergeht) gehäuft – aber natürlich nicht ausschließlich – bei hoch- und höchstbegabten Menschen auftritt (Brackmann, 2024, S. 46 ff.).

Problematisch an der beschriebenen Empfindsamkeit ist aus meiner Sicht, dass ich mich damit sozusagen selbst ins Aus setze. Veranstaltungen, die bei anderen Menschen Freude, Jubel oder Begeisterung auslösen, versetzen mich eher in eine Abwehrhaltung. Wenn ich mir während eines Konzerts Ohropax in die Ohren stecke, nehme ich durchaus befremdete Blicke wahr. Schlimmstenfalls vermeide ich entsprechende Orte, was wiederum zu Vereinsamung führen kann.

Aus den beschriebenen Wahrnehmungen wird vermutlich deutlich, dass ich die Welt relativ häufig so empfinde, als würde mir Gewalt angetan.

Die für mich sehr angenehme Seite der hohen Empfindsamkeit ist die große Freude an Geruchs- und Geschmacksvielfalt von gutem Essen (beispielsweise in der indischen Küche), Klangreichtum (insbesondere bei Musik, aber auch in der Natur), haptischer/taktiler Genuss (bei Berührung von Haut oder verschiedenen Textilien) oder die tiefe Berührung beim Anblick eines Naturschauspiels.

02.08.2025 Musik – eine fast vergessene Leidenschaft

In den letzten Tagen habe ich mich viel mit der Frage auseinander gesetzt, was ich denn eigentlich nun mit meiner neuen Erkenntnis und dem vorhandenen Potenzial anfange. Was kann ich damit anfangen? Gibt es vielleicht Möglichkeiten, die verborgenen, bisher ungenutzten Potenziale – sofern diese denn überhaupt bestehen – irgendwie anzuzapfen? In welcher Richtung soll ich mich umschauen? In beinahe jedem Buch, Artikel, Film oder Podcast werden hoch- und höchstbegabte Personen vorgestellt, die zum Teil beinahe übermenschliche Fähigkeiten auf einzelnen Gebieten haben, die sie womöglich in TV-Sendungen zur Schau stellen. Ich für meinen Teil habe das Gefühl, meine Fähigkeiten sind überhaupt nicht ausßergewöhnlich. Welche „Superkraft“ soll ich denn wohl haben? Warum haben andere Höchstbegabte diesen“Genie-Faktor“ und ich so gar nicht? Meine Frau meinte, es sei vielleicht nicht so selbstverständlich, dass ich autodidaktisch programmieren gelernt hätte und diese Fähigkeit auch noch äußerst erfolgreich im Beruf nutze.

Irgendwie kam ich auf die Idee, ich könnte vielleicht nach Jahrzehnten wieder mal ein Mathebuch in die Hand nehmen, um die verstaubten und verschütteten Kenntnisse wieder auszugraben und aufzufrischen. Oder ich könnte ein Lehrbuch über Biochemie oder Astronomie lesen. All das wäre aber nur „mehr desselben“. Und was würde es mir bringen? Vor knapp einer Woche kam mir dann plötzlich eine sehr alte Leidenschaft in den Sinn, die mich seit frühester Kindheit begleitet, mich immer glücklich gemacht hat, die vermutlich auch irgendwie mit einer bestimmten Begabung zu tun hat und die ich in den letzten Jahren sehr vermachlässigt habe: Musik!

Sehr früh in meinem Leben – ich kann gar nicht mehr sagen, wie alt ich damals war – bekamen mein Bruder und ich einen alten, abgelegten Plattenspieler und ein Tonbandgerät von unseren Eltern zur Verfügung gestellt. Meine Mutter erzählte mir hin und wieder, sie habe mich zu „Penny Lane“ von den Beatles gewickelt. Auf jeden Fall hatten wir verschiedene Vinyl-Platten, von denen mir eine ganz besonders im Gedächtnis geblieben ist. Darauf wurden zum einen die wichtigsten Instrumente eines Sinfonieorchesters mit Klangbeispielen und Erklärungen vorgestellt. Zum anderen befanden sich die verschiedensten klassischen Musikstücke mit Erklärungen darauf, wie z.B. „In der Halle des Bergkönigs“ aus der Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg, die unvermeidliche „Kleine Nachtmusik“ von Mozart, ein kleiner Auszug aus den „Brandenburgischen Konzerten“ von Bach und der „Tanz der Bonbonfee“ (heute eher „Tanz der Zuckerfee“) aus der Nussknacker-Suite von Tschaikowsky. Die Stücke auf dieser Platte begründeten tatsächlich eine gewisse Liebe für klassische Musik in mir.

Nicht viel später begannen wir beide, selbst Schallplatten zu kaufen, und so sammelte sich im Laufe der Jahre in meinem Schrank eine beträchtliche Anzahl Vinyl-Tonträger, wozu sich später dann auch noch kleine „Silberscheiben“ (CDs) gesellten. Darüber hinaus experimentierte ich mit Begeisterung mit dem Tonbandgerät, auch wenn es nur ein altes, zweispuriges Gerät war. Ich hatte große Freude daran, auf den beiden Kanälen dasselbe Musikstück mit leichtem zeitlichen Versatz aufzunehmen, wodurch bei richtigem Timing eine Art Hall-Effekt entstand. Inzwischen habe ich mich aus Gründen der Bequemlichkeit – wie so viele andere Menschen – auf das Streaming von Musik verlegt, aber es muss schon hochauflösende Musik sein, mit MP3s in mieser Qualität bin ich überhaupt nicht zufrieden, am liebsten habe ich Musik in Studioqualität. Der größte Teil meiner Vinylsammlung und ein Teil der CDs steht dennoch im Schrank und wartet darauf, wiederentdeckt zu werden. Und ja, ich besitze noch einen Vinyl-Dreher und denke sogar schon eine Weile darüber nach, mir ein aktuelles, hochwertiges Gerät zuzulegen.

Als ich ungefähr zehn (?) Jahre alt war, schenkte uns eine Tante jeweils eine Gitarre. Darauf übte ich wie besessen bis spät in die Nacht die verschiedensten Musikstücke ein, die ich zunächst in „Peter Bursch’s Gitarrenbuch“ fand. Mit der Zeit lernte ich dann auch andere Stücke dazu, weil ich über ein recht gutes musikalisches Gehör verfüge, so dass ich bei verschiedenen Stücken die Akkorde heraushören konnte. Große Freude bereitete mir, gemeinsam mit meinem Bruder zu spielen und mehrstimmig zu singen. Den Höhepunkt meiner Fähigkeiten dürfte ich etwa im Alter von 18 oder 19 Jahren erreicht haben. Danach vernachlässigte ich das Übern und das Spielen mehr und mehr, auch wenn ich es nie ganz aufgab. So befinden sich auch heute noch drei Gitarren in meinem Besitz, und jetzt ist für mich der Zeitpunkt gekommen, wieder viel mehr Zeit für diese wunderbare Tätigkeit zu investieren. Und wer weiß, was noch kommt? Jedenfalls habe ich meine Freude am selbst Musik spielen wiederentdeckt, und das macht mich richtig glücklich.

Literatur

Brackmann, A. (2024): Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel? (13. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta.
Sattler, J. B. (2000): Der umgeschulte Linkshänder oder Der Knoten im Gehirn (6. Auflage). Donauwörth: Auer.

1 Antwort
  1. Robert
    Robert says:

    Oh ja… an die alte Schallplatte mit den Instrumenten eines Sinfonieorchesters erinnere ich mich noch gut.
    Dein alte Gitarre steht tatsächlich noch bei mir. Gelegentlich bekommt sie neue Saiten und hin und wieder spiele ich sie auch, soweit die „eingerosteten Finger“ es zulassen 🙂

    Antworten

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