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Was ist das sexuelle Problem, wenn „Normal Sein“ die Lösung ist?

Kennen Sie das auch, sich die Frage zu stellen, ob Sie oder Ihr Verhalten noch normal seien? Oder haben Sie schon mal Ihren Partner oder Ihre Partnerin damit konfrontiert, nicht normal zu sein?

In der Praxis hört sich das so an: „Ist es eigentlich normal, wenn ich beim Geschlechtsverkehr mit meinem Mann keinen Orgasmus bekommen kann?“,
„Du mit Deinem übersteigerten Trieb, Du bist doch nicht normal!“, klagt eine Frau
Können Sie uns sagen, ob das normal ist, dass wir schon seit 2 Jahren nicht mehr miteinander schlafen? So lauten häufige Fragen.

Warum ist es uns eigentlich so wichtig, nicht aus dem Rahmen zu fallen, eben normal zu sein? Dazu habe ich ein paar Hypthesen im Kopf, die ich gerne mit Ihnen teilen möchte:

1. Sich normal fühlen, hilft mit Ängsten umzugehen. Wenn ich mich in guter Gemeinschaft befinde, dann kann mein Erleben und mein Verhalten ja nicht ganz verkehrt sein. Die anderen machen es ja genauso. Was aber passiert, wenn ich mich in meiner Wahrnehmung anders erlebe, als ich es gewohnt bin? Dann kann Angst entstehen. Nicht umsonst sind die meisten psychischen Erkrankungen mit dem Erleben großer Angst verbunden. Ich selbst hatte vor Jahren ein sehr harmloses Erlebnis auf einer Rolltreppe im Hamburger Hauptbahnhof. Während ich die Treppe hochfuhr, stelle sich der Betrieb auf Herabfahren um. Ich bemerkte plötzlich eine Veränderung meiner Wahrnehmung, die mir große Angst machte, weil ich sie nicht erklären konnte. Meine Idee war Hochfahren, mein Körper und meine Sinnesorgane nahmen aber Abfahren wahr. Das passte überhaupt nicht zusammen und ließ mich an meiner geistigen Verfassung zweifeln. Sie glauben gar nicht, wie froh ich war, als ich verstand, was passiert war.

2. Sich normal fühlen bedeutet, in guter Gemeinschaft zu sein. Es vermittelt Geborgenheit. Wir gehören zu anderen dazu. Das ist für uns Menschen elementar wichtig. Wir leben in Beziehung und wollen uns nicht ausgestoßen fühlen. Nur wenige Menschen haben die Kraft, sich über Gruppennormalität hinweg zu setzen. Nun ist das Tragische, dass es die Normalität als solche gar nicht gibt. Was normal ist, definieren die Regeln einer Gesellschaft. Und jede Gesellschaft lebt in einem kulturellen und zeitlichen Kontext, der die passenden Regeln immer wieder auf´s Neue konstruiert.
Nehmen Sie das Thema Homosexualität. Heute sind homosexuelle Paare heterosexuellen Paaren weitgehend gleich gestellt, noch vor 40 Jahren galt Homosexualität als Krankheit. Oder denken Sie an die Diagnose ADHS: kannte vor 20 Jahren niemand.
Betrachten Sie den weiblichen Orgasmus: Laut Freud waren Frauen, die durch Geschlechtsverkehr nicht zum Orgasmus kamen, unreif. In Folge versuchten Frauen „krampfhaft“ durch Geschlechtsverkehr zum Orgasumus zu kommen und fühl(t)en sich als Versagerinnen, wenn dies nicht gelingt. Seit 10-15 Jahren ist nun die weibliche Klitoris auf Erfolgskurs. Jeder Orgasmus wird durch die Stimulation der Klitoris hervorgerufen. Manche Frauen mögen trotzdem lieber Geschlechtsverkehr ohne direkte Stimulation ihrer Klitoris und können mit Masturbation überhaupt nichts anfangen. „Was! Du befriedigst Dich nie selbst. Das gibt´s doch gar nicht!“
Sie merken es vielleicht: So schön es ist, dazuzugehören, es kann auch unfrei machen. Erotische Freiheit ist, für sich selbst zu definieren, was schön ist und gut tut, jenseits von Gruppendruck.

3. Sich normal fühlen, kann dazu führen, keine Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und Bedürfnisse anderer abzuwerten.
Mit diesem Punkt bin ich häufiger während einer Paarberatung oder in einer Sexualtherapie konfrontiert. Stellen Sie sich ein Paar vor: Einige Jahre verheiratet, man hat es ganz gut miteinander, nur im Bett läuft es nicht mehr so wie am Anfang. Eine gewisse Langeweile hat sich eingeschlichen und Schlafen ist deutlich attraktiver als Vögeln. Während er behauptet, dass es völlig normal sei, dass das Begehren und die Leidenschaft nach ein paar Jahren nachlasse, meint sie, dass er sie nicht mehr begehre und sie als Frau langsam absterbe. Der Konflikt ist bereits eskaliert, als sie sich zur Beratung anmelden.
Die Logik der Frau ist in diesem Falle so, dass sie denkt: Ich bin OK so wie ich bin, aber mein Mann sollte sich verändern. Das spürt der Mann und geht erst recht nicht auf die Klagen und Vorschläge seiner Frau ein. Er denkt: Ich habe das Recht mich zu verweigern, weil sie ständig fordert. Ich bin OK, aber sie nicht. Dazu weiß er aus der Presse, dass lang verheiratete Paare durchschnittlich 2-3 mal im Monat Sex haben. Das Problem verschärft sich. Je mehr die Frau fordert, desto mehr zieht sich der Mann zurück und beide glauben sich im Recht, bzw. denken, dass sie normal seien. Die gemeinsame Sexualität wird zum Streitfall, und obwohl beide gute Argumente für ihre Normalität herbeiführen, hilft es nicht weiter. Beide Partner teilen sich den Anspruch auf Normalität. Die Frau hat die Definitionsmacht, was die gemeinsame Sexualtität anbelangt, d.h. Sie weiß, was sein sollte, und er hat die Bestimmungsmacht, wieviel Sex tatsächlich gelebt wird. In diesem Falle verhindert die sogenannte Normalität, ein Eingehen auf die Bedürfnisse des anderen und das kritische Hinterfragen der eigenen Einstellung.

Wie schön wäre es, wenn ein Paar gemeinsam nach einer Lösung suchen könnte, über die eigenen Bedürfnisse, Vorlieben und Ängste sprechen könnte, ohne die „anderen“ vergleichend hinzuzuziehen. Das aber würde voraussetzen, dass beide Partner fähig wären, ihre Empfindungen und Gedanken in Worten auszudrücken. Und das fällt vielen Paaren sehr schwer.

In einer meiner nächsten Beiträge werde ich mich damit beschäftigen.

In der nächsten Woche jedoch, werde ich aus meiner Lieblingsstadt Hamburg und meinem Lieblingsstadtteil St. Pauli aus meinem Lieblingssexschop „boutique bizarre“ berichten. Ich bin nämlich unterwegs, um herauszufinden, ob alte Menschen noch soviel Sex haben, dass sie für die  Erotikindustrie interessant sind.
Wie ich darauf komme? Im Sommer bin ich von der Ärztekammer eingeladen worden, einen Vortrag über „Sexualität im Alter“ zu halten, und da ich wenig Lust auf eine ausschließlich wissenschaftliche Recherche habe, halte ich meine Augen und Ohren im täglichen Leben auf.

 

2 Kommentare
    • Christiane Jurgelucks
      Christiane Jurgelucks says:

      Vielen Dank für Ihre Info. Der Blog von Ulrich Clement ist insgesamt lesenswert mit seiner feinen Ironie.

      Antworten

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